Weisheitsgeschichten

Die Geschichte eines Menschen der beten lernen wollte

In den Wäldern der Vogesen lebten einst viele Einsiedler. Einer von ihnen stand im Ruf großer Heiligkeit. Oftmals hatten Leute aus der Gegend ihn gebeten, sie zu sich zu nehmen und sie beten zu lehren. Aber alle erhielten die gleiche verneinende Antwort. Außer einem. Den Grund erzählte dieser selbst kurz nach dem Tod seines Meisters.

Im Alter von achtzehn Jahren hatte ich mich ihm vorgestellt und ihn gebeten, bei ihm bleiben zu dürfen. Auf seine Frage: "Warum?" hatte ich geantwortet: "Weil ich beten lernen möchte."- "Und warum willst du beten lernen?" "Weil das die höchste Wissenschaft ist" - "Ich würde dich gerne annehmen, aber ich kann nicht", antwortete er.

Nach drei Jahren besuchte ich ihn wieder. Er empfing mich herzlich, wie ein Vater und stellte mir von neuem die Frage: "Warum willst du beten lernen?" - "Um ein Heiliger zu werden." Ich war überzeugt, dass er mich diesmal annehmen würde. War ein solcher Beweggrund nicht der höchste, der sich denken ließ? Aber er gab mir erneut eine abschlägige Antwort, und tief enttäuscht verließ ich ihn.

Ich nahm die Feldarbeit wieder auf. Doch mehr als zuvor plagte mich der Wunsch zu beten. Wenn ich an den dachte, der dort oben so vertraut mit seinem Gott lebte, wurde mein Verlangen noch stärker. In einer Nacht erhob ich mich plötzlich: Die Gewissheit hatte sich in mir festgesetzt, dass er mich diesmal annehmen würde. Bei meiner Ankunft betete er und hörte mich nicht. Ich wartete lange; meine Ungeduld beruhigte sich nach und nach. Als er sich umwandte, schien er über meine Gegenwart gar nicht erstaunt zu sein. Ohne ihm Zeit zu lassen, Fragen zu stellen, nahm ich das Wort: "Ich möchte beten lernen, weil ich Gott finden möchte."

Da schloss er mich in seine Arme.

(Autor unbekannt)




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